Ein Mann zieht seinen Hut und verneigt sich vor einem lebensgroßen Buch. So sieht ein Bild aus der Welt der Bücher aus, mit der sich der Illustrator Quint Buchholz in zahlreichen Werken auseinandergesetzt hat. Quint Buchholz ist heute einer der bedeutendsten deutschen Buchkünstler und –Illustratoren. Man kennt ihn vor allem durch Kinder- und Jugendbuchillustrationen wie für „Schlaf gut, kleiner Bär“ und „Sofies Welt“. In diesem Interview erzählt er über seine „Buchbilder“ und darüber, was Bücher und Bilder für ihn ausmachen.
Frage: Sie haben nicht nur viele Bücher sehr phantasievoll illustriert, das Thema Buch taucht auch in Ihren Bildern immer wieder auf. Was macht für Sie die „Faszination Buch“ aus?
Buchholz: Als Erstes sind natürlich immer die Geschichten wichtig. Geschichten sind eine wundervolle Art, die Welt kennen zu lernen und zu bereisen. Sie begleiten mich seit meiner Kindheit. Meine Mutter hat uns früher viel vorgelesen und konnte auch selbst Geschichten und Märchen erzählen, was heute eine fast verloren gegangene Kunst ist. Ich bin mit vielen Büchern groß geworden und die Faszination von Büchern hat bis heute angehalten. Hinzugekommen ist, dass das Buch an sich und in Verbindung mit seinem Inhalt für mich als Illustrator zu einem Objekt der Begierde geworden ist.
Frage: Viele Jugendliche haben heute ja gar keinen Zugang mehr zum Buch ...
Buchholz: Richtig, gerade in einem bestimmten Alter lesen viele Jugendliche nicht so gerne. Das ist bei Jungen, glaube ich, noch mehr der Fall als bei Mädchen. Dann sind manchmal Leute wichtig, die einem etwas nahe bringen. Auch bei mir war das so. Wir z.B. hatten im Gymnasium einen Mitschüler, der zu einer Zeit, als eigentlich ganz andere Dinge angesagt waren, mit einer unglaublichen Überzeugungskraft behauptet: „Bücher sind wichtig, Theater ist wichtig, Ausstellungen sind wichtig.“ Er hat selbst Gedichte und Stücke geschrieben und – ohne die Unterstützung von Lehrern – Lesungen und Theateraufführungen mit uns veranstaltet. Heute würde er sagen: „Lesen ist cool“. Er war eine ganz wichtige Figur und hat uns mitgezogen. Ich glaube, solche Erlebnisse braucht man vielleicht auch, um einen Zugang zu Büchern zu finden.
Frage: Gab es auch für Ihre Buchbilder ganz spezielle Auslöser, so wie der Junge, der Sie zum Lesen gebracht hat?
Buchholz: Ja, es gab vor allem einen ganz konkreten Auftrag. Das war zu meinen Anfängen als Illustrator, in den 80-er Jahren. Die erste Hälfte der Buchbilder, etwa 20, sind entstanden als Auftrag für die „ZEIT“. In einer Rubrik hat sie damals verschiedene Zeichner vorgestellt. Nachdem ich bei diesen Beiträgen dann jemanden entdeckt hatte, der ähnliche Sachen machte wie ich, habe ich in meiner jugendlichen Unbekümmertheit einfach Kopien meiner Bilder an die „ZEIT“ geschickt. Und dann hat man mir mitgeteilt: „Wunderbar, das gefällt uns sehr“. Ganz toll und unkompliziert. Nachdem sie zwei Serien mit meinen Bildern gebracht hatten, wurde ich gefragt, ob ich nicht für die Buchmesse die Messebeilage illustrieren wollte. Also Bilder zum Thema Lesen, Bücher, Schreiben. Das war 1988. Für mich war es der große Auslöser, mich bildlich mit dem Objekt Buch zu beschäftigen.
Frage: Wie ging es mit den Buchbildern dann weiter?
Buchholz: Die Messebeilage war für mich damals ein wichtiger Auftrag, weil natürlich viele Leute aus der Verlagswelt die Bilder gesehen haben. Fast gleichzeitig habe ich dann auch die ersten Buchumschläge illustriert und dann relativ bald sehr viel mit dem Carl Hanser Verlag zusammengearbeitet, der einen ständigen Bedarf an Werbemotiven z.B. für Plakate hatte. So wurde diese Serie von Buchbildern dann fortgesetzt.
Frage: Sie haben gesagt, Geschichten seien für Sie wichtig. Finden Sie, dass Literatur beflügelt oder Weitblick verschafft? Ich denke hier speziell an Ihre Bilder „Die Bibliothek“ oder „Mann auf einer Leiter“?
Buchholz: Durchaus. Ich meine dabei natürlich die Bücher, die etwas zu sagen haben, und nicht die große Masse der anderen. Ich glaube schon, dass es Bücher gibt, die einem etwas Neues erzählen können und die Gedanken, die Phantasie oder das Herz weiten können. Bücher sind eine wunderbare und bequeme Art, große Abenteuer zu erleben. Sie können auch Impulse setzen. Natürlich wird man nicht durch einen einzelnen Satz beschließen, ab jetzt alles ganz anders zu machen. Aber manche Sätze nimmt man einfach mit und dann sickern sie so nach und nach ein und beeinflussen das eigene Handeln.
Frage: Ein einzelnes gut gemachtes Buch kann viele andere Bücher aufwiegen, so verstehe ich Ihr Bild „Bücherwaage“ aus. Was wollten Sie mit diesem Bild ausdrücken?
Buchholz: Wie ein Bild letztlich wirkt, kommt immer auch auf den Betrachter an. Wenn ein Bild mehrere Deutungen zulässt, dann ist das durchaus beabsichtigt. Insofern sage ich immer gar nicht gerne dazu, ob ich mir etwas oder was ich mir dabei gedacht habe oder was es für mich bedeutet. Im Gegenteil, wenn ich Bilder male und Ideen habe, die zu klar sind, bin ich eigentlich immer auf der Suche nach Dingen, die diese Klarheit ein bisschen durchbrechen. Wie viele Deutungsmöglichkeiten es bei diesem Bild gibt, hat der Autor Peter Hoeg sehr schön in seiner Geschichte im „BuchBilderBuch“ erzählt.
Frage: Auf dieses Buch kommen wir gleich noch. Ein anderes Bild hat mich auch sehr angesprochen, „Der Bücherleuchtturm“. Inwiefern können Bücher Leuchttürme sein?
Buchholz: Bücher können Leuchttürme sein, klar. Dieses Bild hatte einen konkreten Anlass, nämlich den 70. Geburtstag von Heinz Friedrich, langjähriger Verleger und Geschäftsführer von dtv. Der Hanser Verlag, der Gesellschafter bei dtv ist und über viele Jahre mit Heinz Friedrich zusammengearbeitet hatte, wollte ihm ein Bild schenken. Dieses Geburtstagsbild, der Bücherleuchtturm, hatte dann natürlich auch etwas mit dem Verlegen von Büchern zu tun. Und damit, was Bücher für jemanden bedeuten, der nicht nur selbst Bücher schreibt, sondern etwas an geistiger Haltung, an Geschichten, an Philosophie an die Welt weitergibt.
Frage: Meistens entwerfen Sie Bilder zu Texten, illustrieren also Geschichten. In Ihrem „BuchBilderBuch“ war es umgekehrt: Hier haben bekannte Autoren wie Jostein Gaarder, Rafik Schami oder T.C. Boyle aufgeschrieben, welche Geschichten sich hinter den Bildern verbergen. Text und Bild – wie gehören sie für Sie zusammen?
Buchholz: Beide gehören zusammen, aber jedes für sich setzt auch andere Schwerpunkte und beleuchtet ganz bestimmte Aspekte. Wenn das Bild das Gleiche ausdrücken würde wie der Text, wäre es langweilig. Es muss eine Spannung entstehen zwischen beiden. Für mich war das sehr intensiv während der Entstehung des „BuchBilderBuchs“ zu erleben. Während eines halben Jahres etwa trafen die Geschichten zu den Bildern nach und nach ein. Bei einigen war ich zunächst irritiert, weil sie auf den ersten Blick nicht viel mit den Bildern zu tun hatten. Nach einiger Zeit habe ich aber gerade jene Texte interessant gefunden, die nicht unmittelbar auf das Bild eingingen.
Frage: Bei welcher Geschichte ist das zum Beispiel der Fall?
Buchholz: Z.B. bei der Geschichte von Aldo Buzzi zu meinem Bild „Der Gruß“. In der Geschichte geht es um einen Mann und ein Paar Schuhe, die ihm lange Zeit gute Dienste geleistet haben. Jetzt sind sie abgetragen und er beschreibt sie und den gemeinsam zurückgelegten Weg mit großem Respekt und großer Zuneigung. Eine ganz ähnliche Haltung drückt das Bild aus, auch wenn hier von der großen Wertschätzung erzählt wird, die ein Mann einem Buch entgegen bringt. Es steht lebensgroß vor dem Mann und er verneigt sich davor. "Überhaupt arbeite ich in meinen Bildern oft und gerne mit nur ganz wenigen, einfachen Dingen des Alltags."
Frage: Was inspiriert Sie mehr? Ein gut geschriebenes Buch oder ein Gemälde?
Buchholz: Das kann genauso ein gutes Buch sein wie ein gutes Gemälde. Wichtig ist, dass es gut ist, nicht was es ist. Ich beschäftige mich mit vielem, mit Büchern, aber auch mit Musik, mit Bildern oder dem Theater. Und es geht immer auch um die Dinge, die uns Geschichten erzählen können.
Frage: Ein Bild von Ihnen, „Die Fahrt“, zeigt einen Mann, der einen Zug betritt, und einen Schaffner oder Gepäckträger, der offensichtlich für diesen Mann einen ganzen Stapel Bücher trägt. Man hat den Eindruck, der Mann begibt sich auf eine lange Reise und deckt sich für die Bahnfahrt mit Büchern ein. Sind sie oft lesend unterwegs?
Buchholz: Ich fahre leidenschaftlich gerne Zug. Wenn es einigermaßen ruhig ist im Wagen. Man gleitet durch die Landschaft und die Städte und hat Zeit zum Nachdenken und zum Lesen. Bücher können ja auch eine Reise zu sich selbst sein. Und solche Reisen kann man beim Zugfahren wunderbar unternehmen.
Frage: Wann sind Sie das letzte Mal so in ein Buch eingetaucht, dass Sie Zeit und Raum vergessen haben?
Buchholz: Gerade lese ich sehr gerne Bücher von Philip Roth. Das hat mit „Everyman – Jedermann“ begonnen, ein Buch, das in einer sehr zurückgenommenen und eindringlichen Sprache von der Vergänglichkeit erzählt. Es beginnt mit der Beerdigung der Hauptperson und erzählt dann in Rückblenden Situationen seines ganzen Lebens, in denen er mit dem Tod, dem eigenen oder dem anderer, konfrontiert wurde und wie er dann damit umgeht, was er erfährt und lernt. Auch das neue, in Kürze erscheinende Werk von Philip Roth „Exit Ghost“, das ich in einer Vorab-Version gelesen habe, war ein sehr besonderes Leseerlebnis.
Frage: Auf Ihren Bildern zeigen Sie verschiedene Leseorte, u.a. eine grüne Wiese, ein Schlafzimmer oder ein Boot. Spielt es für Sie eine Rolle, wo man liest?
Buchholz: Ja, die Orte, an denen gelesen wird, beeinflussen auch auf eine gewisse Weise, wie man ein Buch aufnimmt. Aber nicht nur der Raum, auch die Zeit, in der ein Buch gelesen wird, ist entscheidend. Manche Bücher machen einen bei einem Leseversuch vollkommen ratlos und können ein oder zwei Jahre später eine Offenbarung sein, das Buch schlechthin. Weil natürlich beim Lesen immer eine Rolle spielt, wo man selbst gerade steht und was einen beschäftigt.
Frage: Welches von Ihren eigenen Büchern, bei denen Sie entweder als Illustrator oder als Illustrator und Autor gewirkt haben, ist Ihr Lieblingswerk und warum?
Buchholz: Eigentlich habe ich kein spezielles Lieblingswerk und kann die Frage also nicht wirklich beantworten. Bei jedem Buch, an dem man ja oft sehr lange arbeitet, kämpft man vielleicht um etwas anderes, es beschäftigt einen anders als die davor und bedeutet einem also auch etwas anderes. Eines der Bücher, die ich nach wie vor sehr mag, ist Roberto Piuminis „Matti und der Großvater“.
Frage: Worin liegt hier für Sie das Besondere?
Buchholz: Der Großvater liegt am Anfang der Geschichte im Sterben, und die Erwachsenen stehen mit ernsten, traurigen Gesichtern um sein Bett herum. Mit dabei steht auch der siebenjährige Matti. Plötzlich zwinkert der Großvater ihm zu, was alle anderen nicht zu bemerken scheinen. Und gemeinsamen begeben sie sich auf einen langen Spaziergang. Dabei erleben sie viele schöne Dinge; im Laufe der Zeit wird der Großvater dann immer kleiner und kleiner, bis er so winzig ist, dass Matti ihn in sich aufnimmt. Es ist ein seltenes Buch zum Thema Sterben, bei dem man am Ende beinahe fröhlich ist. Für mich ist das ein sehr schönes Buch.
Frage: Hat das gedruckte Buch in unserem elektronischen Medienzeitalter denn weiterhin eine Chance? Und wie, glauben Sie, sieht die Zukunft des Buches aus?
Buchholz: Die modernen Medien haben natürlich ihren Reiz. Sie okkupieren unsere Sinne mit bewegten Bildern, mit Sprache und Musik – und es ist oft schwer, sich diesem Sog zu entziehen. Ich denke aber, das gedruckte Buch wird bleiben, einfach weil wir es so nötig brauchen. Vorausgesetzt, es gelingt uns Büchermachern, immer wieder außergewöhnliche und interessante, kurzweilige Bücher zu erfinden. Ich meine nicht, dass man jetzt Bücher machen soll, die genauso flimmern und wummern wie das Internet oder Computerspiele. Im Gegenteil, die Ruhe und im Vergleich dazu große Schlichtheit des Buches hat ja eine große eigene Kraft. Auf die man vertrauen kann. Und man erlebt ein Buch ja auch sinnlich, es fühlt sich viel schöner an als ein Bildschirm, es hat eine Seele, es duftet. Manche Kinder nehmen ihr Lieblingsbuch ja zum Einschlafen mit ins Bett. Insofern wird ein Buch immer ein ganz anderes Erlebnis versprechen als der Umgang mit elektronischen Medien. Außerdem lässt einem ein Buch viel mehr Raum, für die eigenen Gedanken und Bilder. Man kann beim Lesen still werden und sehr intensiv bei sich sein, und genau daran herrscht doch so ein Mangel in unserem modernen Leben, in dem so viele nicht wirklich wichtige Dinge uns vor sich hertreiben. Und uns ablenken von der Substanz.