Buchbinderei Köster
Buchbinderei Köster
Dez
2021

Nicht von Pappe

Von Kristian Teetz
 Was wäre unser Leben ohne Papier? Wir zahlen mit Geldscheinen, schnäuzen in Taschentücher, lesen Zeitungen und Bücher. Doch das wichtige und flexible Material ist momentan knapp. Diesen Mangel werden wir in den kommenden Wochen unter anderem im Weihnachtsgeschäft spüren.

Foto Manfred Heyde via Wikipedia Commons
 
Allein diese Namen: Washipapier, Fabrianobütten, Eispapier, Velinpapier.
Oder Mumienpapier, Birkenrindenpapier, Büttenpapier und Elefantenhaut.
Und dann ist da noch Loktapapier, das aus der Rinde des Seidelbaststrauches hergestellt wird. Es fühlt sich wunderbar weich und doch stabil an, handgeschöpft, außergewöhnlich.
Oft werden der Zauber und die Schönheit von Dingen erst deutlich, wenn sie zu verschwinden drohen. Momentan leiden ganze Branchen unter Papiermangel. Dem uralten Material droht glücklicherweise zwar noch lange nicht das Aus. Aber wegen elementarer Lieferschwierigkeiten befinden wir uns momentan in einer veritablen Papierkrise. 
Die Gründe sind vielfältig, vor allem jedoch sind Engpässe bei den Lieferketten und die Folgen der Coronakrise verantwortlich. Sie sorgen für steigende Preise auf dem Papiermarkt.
Besonders  Rohstoffe wie Altpapier oder Zellstoff, die zur Herstellung notwendig sind, sind in den vergangenen Wochen um ein Vielfaches teurer geworden. Für September hat das Statistische Bundesamt ein Plus bei den Großhandelspreisen für gemischtes Altpapier von 222 Prozent ausgemacht. Papier- und Pappersatzstoffe waren im Großhandel zuletzt um 147 Prozent teurer. Aber auch ganz unabhängig vom Preis herrscht großer Mangel: Es gibt oft einfach kein Papier zu kaufen.

Foto Frank Vincentz via Wikipedia Commons

Das hat unter anderem Folgen für die Zeitungsverlage, da als Rohstoff für deren Trägermaterial vor allem Altpapier dient. Jenes Altpapier aber wächst nirgends, sondern es fällt an. Wenn weniger Papier verbraucht wird, gibt es logischerweise auch weniger Altpapier. Und das vorhandene wird immer mehr im Versandhandel gebraucht. Die ganzen Internetversandhändler von A wie Amazon bis Z wie Zalando packen ihre bestellten Waren ja alle in Pappe und Karton. Zudem werden auch immer mehr Teller, Besteck und andere Gebrauchsgegenstände, die früher aus Plastik bestanden, aus Papier hergestellt, aus Karton und Pappe.
Ja, es geht hier auch um Karton und Pappe, sie sind letztlich nichts anderes als Papier. Alle Sorten werden aus gleichen, meist pflanzlichen Grundstoffen und im Prinzip gleichen Fertigungsweisen hergestellt. Die Unterschiede werden durch das Quadratmetergewicht definiert.
Die DIN 6730 bezeichnet Produkte bis 225 Gramm pro Quadratmeter (g/m²) als Papier 
und alle schwereren Produkte als Pappe. Feinere Unterscheidungen gebrauchen zwischen 
225 und etwa 600 g/m² noch den Begriff „Karton“. Zur Einordnung: Normales Druckerpapier 
hat 80 g/m², ein Umzugskarton rund 400 g/m².  
 
Der Papiermangel hat auch Folgen für das Weihnachtsgeschäft: Denn Bücher sind nach wie vor eines der beliebtesten Geschenke, doch Buchverlage können nicht mehr so schnell nachdrucken wie gewohnt. Wenn Bücher ausverkauft sind, werden sie es momentan auch erst einmal bleiben. 
„Bislang konnten die Druckereien ihr Material immer just in time bestellen, gängige Papiersorten konnten von einem Tag auf den anderen Tag bezogen werden“, sagt der Göttinger Verleger Thedel von Wallmoden. „Das geht im Moment nicht, wir reden da von Lieferzeiten von mehreren Wochen. Und solche Lieferengpässe habe ich ehrlich gesagt überhaupt noch nie erlebt“, sagt von Wallmoden, der vor 35 Jahren den Wallstein-Verlag gründete.
Doch was macht Papier eigentlich so besonders? Wir können heute doch auch das meiste auf dem Bildschirm lesen. Das stimmt zwar, aber wenn Sie diesen Artikel jetzt gerade auf einem Bildschirm lesen, werden sie ihn nur mit dem Auge wahrnehmen können. Sie können zwar auch über den Bildschirm streichen, aber da warten nur technische Apparate auf Sie. 
Wenn Sie diesen Text aber auf einer klassischen Zeitungsseite lesen, können Sie ihn mit verschiedenen Sinnen aufnehmen. Streichen Sie über das Zeitungspapier, und Sie werden
etwas fühlen! Aber vergessen Sie nicht: Papier kann an den Seiten scharf wie ein Messer sein. Riechen Sie dran! Wiegen Sie es in Ihren Händen! 
„Nehmen Sie mal eine Zeitungsseite und eine Buchseite oder auch unterschiedliche Buchseiten und schnippen Sie mit Ihrem Fingernagel gegen eine einzelne Seite“, sagt der Verleger und Papiervirtuose Gerhard Steidl. „Dann hören Sie einen bestimmten Klang, das ist fast wie Musik.“
Für den US-Amerikaner Ben Patterson war Papier sogar nicht nur „fast Musik“, sondern er hat damit Klänge erzeugt. In seinen Performances hat er Papier zerknüllt und zerrissen, gerieben und zerschnitten – und in seinem „Paper Piece“ verewigt.
Gerhard Steidl verlegt neben Romanen und Sachbüchern vor allem Foto- und Kunstbände. Für ihn ist Papier nicht nur Mittel zum inhaltlichen Zweck, sondern Teil der Kunstform Buch. Um möglichst vielfältig zu bleiben, hat er sogar die Betreiber von Papiermühlen überredet, uralte Sorten wieder herzustellen oder seine eigenen Kreationen zu produzieren. „Wenn ich Fotos oder auch Texte auf Papier drucke, habe ich eine bestimmte Vorstellung, wie dieses Papier aussehen soll. Dazu schaue ich mir alte Rezeptbücher an, Rezeptbücher zur Papierherstellung. Papiermacher war ja einmal ein richtiger Beruf – und diese Papiermacher haben wie ein Koch oder eine Köchin ihre Rezepte in ein Buch geschrieben“, sagt der 71-Jährige. Rezepte, bei denen man etwa normales raues Papier mit Quark, Eiweiß, Kalk und Knochenleim streicht. „Das ist ein wunderbares Papier.“
Papier hat gegenüber dem Lesen auf dem Bildschirm weitere Vorteile: So habe es keine interaktiven Links, „die unaufgefordert über die Oberfläche wandern“, schreiben Nicola von Velsen und Neil Holt in ihrem Buch „Papier“, das im Prestel-Verlag erschienen ist. „Papier erlaubt mir mich zu konzentrieren, es schützt den Raum meiner Wahrnehmung und schärft meine Sinne.“
Papier begleitet den Menschen in seiner Entwicklungsgeschichte seit gut 2000 Jahren.
Seine Erfindung wird dem Chinesen Ts’ai Lun zugeschrieben, der um 105 n. Chr. erstmals das heute bekannte Verfahren der Papierherstellung beschrieb. Zahllose Ideen, Gesetze, Erfindungen, Verträge, Gemälde, Romane, Beweise, Theorien – ja, eigentlich das gesamte Wissen der Menschheit steht auf Papier. Es ist, wie Steidl sagt, „ein Träger von Informationen, aber nicht nur von Informationen, sondern es transportiert auch Kulturgenüsse“.
Und das tradierte Wissen auf Papier bleibt lesbar. Während Speichermedien in unserer Zeit immer schneller von anderen abgelöst werden – wer kann heute noch Dateien auf 5 1/4-Zoll-Disketten lesen? – übersteht das Papier jeden Medienwandel. Man kann ein Buch, eine Notiz, ein Dokument aus vergangenen Jahrhunderten heute wieder aus dem Archivregal oder der Bibliothek nehmen und es lesen. Papier ist geduldig. 
 
Aber es prägt seit Langem auch den Alltag der Menschen jenseits der Buch- und Zeitungsseiten:
Aus Papier sind Taschentücher, Servietten, Teebeutel und Geldscheine. Papier hält den Tabak von Zigaretten, versteckt Geschenke vor dem Blick des Beschenkten, isoliert Rohre. Die Lochkarten aus Karton, die der US-Amerikaner Herman Hollerith entwickelte, sind die Vorläufer unserer heutigen Computer. 
Aus Papier kann auch Kunst entstehen. Der Künstler Thomas Demand baut Tatort- und Pressefotografien detailgetreu aus Papier nach. Danach fotografiert er sie ein zweites Mal
und zerstört anschließend das Papierkunstwerk wieder. Was als Demands Kunst bleibt, sind diese zweiten Fotos.
Ein großer Vorteil von Papier sei, dass es „recycelt werden kann und sich so ein Kreislauf ergibt. Papier ist ein sehr temporäres Material“, sagt Demand. „Wenn man Stahl bearbeitet, bleibt er trotzdem so, wie er ist. Aber Papier ist von vornherein ein sich veränderndes Material. Es ist sehr schön und auch sehr offen für unsere Hände.“
Und mit den Händen denke der Mensch – viel mehr, als ihm bewusst sei.   
Demand schätzt die Arbeit mit dem Stoff besonders, weil er ihn bei den Betrachterinnen und Betrachtern seiner Kunst als bekannt voraussetzen kann. „Wenn Leute etwa per Hand einen Brief schreiben und sie ihn dann wegschmeißen, vielleicht weil sie sich verschrieben haben, wissen sie, wie man das Papier zerknüllt. Man weiß also, wie die Ober-flächen sich verhalten, und ich kann
voraussetzen, dass jemand anderes ebenfalls weiß, wie die Oberflächen aussehen“, sagt der
57-Jährige. Es gebe also ein geteiltes Grundverständnis für dieses Material. „Jeder hat heute immer noch mindestens ein- oder zweimal am Tag Papier in der Hand, und ich glaube auch, dass es noch eine Zeit lang so bleiben wird.“ 

Foto Drkiriorigami via Wikipedia Commons

Papier fasziniert ihn aber auch auf einer nahezu metaphysischen Ebene. Das Bauen, Fotografieren und anschließende Zerstören seiner papierenen Kunstwerke spiegelt auch die Vergänglichkeit des Materials und ihren unvermeidlichen Zerfall wider. Im Grunde, sagt Demand, seien wir Menschen
genau der gleichen Fragilität, den gleichen Einflüssen ausgesetzt wie Papier. „Nur können wir es nicht so eindeutig erkennen.“ Dieser Hinweis auf die Fragilität sei wichtig, „denn Sie sehen den Dingen an, dass sie vor der Kamera einmal so waren, wie sie dort zu sehen sind. Aber schon am Tag danach sind sie nicht mehr so. Diese Schönheit, die sie hoffentlich ausstrahlen, haben sie nur sehr kurz. Wie eine Blüte.“
 
Papier, ein Sinnbild für menschliches Leben.
 
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